CAAL 2011 Frutillar
Neuntes Treffen der deutschsprachigen Gemeinschaften
Lateinamerikas
Noveno encuentro de las comunidades de habla alemana
de América Latina
Toni Jochem:
Zeugnisse der Hunsrückdeutschen in
Santa Catarina (Brasilien)
Der Referent, Nachkomme von Einwanderern aus dem Hunsrück, ist
Geschichtslehrer und Mitglied des Instituts für Geschichte und Geographie von
Santa Catarina. Toni Jochem arbeitet am Gemeindeamt der Stadt Águas Mornas –
Santa Catarina/Brasilien.
Der nachfolgende Text ist von den Organisatoren des Treffens als
Zusammenfassung mit erweiternden Angaben zum Thema des Originalvortrags in
spanischer Sprache erarbeitet.
Der Einfluss der Hunsrückdeutschen als Siedler im Süden
Brasiliens
Die in Brasilien übliche Bezeichnung
«Hunsrückdeutsche» für eine deutschstämmige Volksgruppe mit ganz bestimmten
Merkmalen, vor allem sprachlicher Art, geht auf die Deutschen zurück, die 1824
als erste Einwanderergruppe aus dem Hunsrück kamen, wo die
wirtschaftliche Lage der Bauern besonders schlecht war. Sie ließen sich, gefolgt
von Einwanderern aus Sachsen, Württemberg und Sachsen-Coburg, im Süden
Brasiliens in der ersten deutsche Kolonie São Leopoldo nieder. Die
meisten Einwanderer nach Rio Grande do Sul kamen anfänglich allerdings aus dem
norddeutschen Raum. Erst später dominierten die Immigrantengruppen aus dem
Hunsrück und der Pfalz. Sie alle rodeten den Urwald und schufen Bauernhöfe
mittlerer Größe (70 ha), ohne Sklaven als Arbeitskräfte zu beschäftigen. Für die
Einwanderer aus dem Hunsrück waren wie bei den meisten europäischen Auswanderern
die sozialen Probleme in der alten Heimat sowie die Aussicht auf einen bessseren
Lebensstandard Anreiz für einen Neuanfang in Brasilien.
Auffälligstes Kennzeichen der Volksgemeinschaft der
sog. Hunsrückdeutschen ist der von ihnen in Südbrasilien als Minderheitensprache
noch heute gesprochene Dialekt Hunsrückisch (auf Portugiesisch:
hunsriqueano), und zwar sowohl in der Variante des Riograndensischen
als auch des Katharinensischen. Beide Formen des brasilianischen
Hunsrückisch gehen auf das in Teilen des deutschen Hunsrücks gesprochene
Hunsrücker Platt zurück. Nur wurde das brasilianische Hunsrückisch auch von
anderen deutschen Einwandererdialekten, wie Pommersch, Bairisch oder
Tirolerisch, und von den Immigrantensprachen Italienisch und Portugiesisch
beeinflusst.
Die Volksgruppe der brasilianischen
Hunsrückdeutschen hat ihre Wurzeln vor allem im Staate Rio Grande do Sul,
und zwar in der Gegend um São Leopoldo und Santa Cruz. Es
dürfte aber nicht so sehr die Zahl derer gewesen sein, die tatsächlich aus dem
Hunsrück eingewandert waren, sondern vielmehr deren Dialekt, der sich als
Umgangssprache am stärksten unter den im Süden Brasiliens siedelnden
Deutschen durchgesetzt hatte, so dass man die Hunsrückdeutschen im Grunde
genommen auch als eine Sprachgruppe verstehen kann. Zumindest ebenso stark wie
die Einwanderer aus dem Hunsrück waren übrigens in Rio Grande do Sul auch die
Pommern vertreten, das galt vor allem für die Siedlungen Santa Cruz, Santo
Ângelo, Nova Petrópolis und São Lourenço do Sul.
Im Gegensatz zu Rio Grande do Sul wurde im Staat
Santa Catarina die deutsche Kolonisierung nicht von der Regierung
gefördert, sondern privaten Initiativen überlassen. Am 1. März 1829
wurde am Río Imaruí, rund 30 km westlich von Florianópolis, die «Kolonie der
Deutschen» gegründet; sie bekam zu Ehren der herrschenden kaiserlichen Familie
den Namen Colonia São Pedro de Alcântara. Sie war die erste
deutsche Kolonie in Santa Catarina überhaupt und wurde vorwiegend von
Immigranten aus dem Hunsrück und der angrenzenden Pfalz
besiedelt. Wenn auch die Hunsrückdeutschen in Santa Catarina die ersten waren,
die eine Kolonie gründeten, so waren es zumindest in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts wiederum die Pommern, die als Einwanderer zahlenmäßig dominierten;
das galt vor allem für die Siedlungen Blumenau, Brusque, Joinville und das
Aushängeschild pommeranischer Einwanderung schlechthin, Pomerode, das
gerne als «deutscheste» Stadt Brasiliens apostrophiert wird.
Erst später, d.h. im 20. Jahrhundert, als im
Landesinneren von Rio Grande do Sul alles brauchbare Siedlungsland von den
Deutschen bereits besiedelt war, begann man in den entlegeneren Westgebieten des
Landes und im benachbarten Santa Catarina mit der Gründung neuer
Kolonien. Als ein Beispiel hierfür sei die Gründung der Siedlung São João do
Oeste in den 1950er-Jahren im damals noch menschenleeren Südwesten von
Santa Catarina genannt. Man siedelte dort gezielt Hunsrückdeutsche aus
Grande do Sul an, die katholisch waren und das Hunsrückisch als
Umgangssprache mitbrachten.
Heute, d.h. 60 Jahre später, ist es in dem
inzwischen auf 6000 Einwohner angewachsenen Kolonistenstädtchen immer noch so:
Man ist streng katholisch und spricht neben dem Portugiesischen als
Zweitsprache Hunsrückisch. Werfen wir einen Blick ins Internet, was
Wikipedia über São João do Oeste, das bezeichnenderweise erst im Jahre 1993 zur
Stadt erhoben worden ist, zu berichten weiß:
A população de São João do Oeste, constituída de
sua quase totalidade de origem alemã é de 6033 habitantes, dos quais residem no
perímetro urbano em torno de 25% dos habitantes e 75% de habitantes na zona
rural.
Em 2008, o município de São João do Oeste
recebeu o título de capital catarinense da língua alemã, sendo que 93% de sua
população fala alemão, e pelo menos 97,5% entende a língua alemã (Fonte: Lei
Estadual nº 14.467/2008 Santa Catarina), sendo a língua alemã também uma matéria
em sala de aula desde as séries iniciais.
Segundo o INEP o município de São João do Oeste,
pela segunda vez consecutiva, conquistou o índice de município com menor índice
de analfabetismo do Brasil, atingindo 99,8% de alfabetização. Os resultados
neste setor não são frutos de ações e programas isolados ou esporádicos e sim de
ações, atitudes e posturas que se refletem ao longo dos anos.
Die Einwohner des Städtchens sind besonders stolz
auf ihre deutsche, genauer gesagt hunsrückisch geprägte Lebensweise und
Kultur, die sie nun seit über 180 Jahren pflegen. Als wir aus Frutillar im
vergangenen Jahr mit einer Gruppe von 35 Personen dort zu Besuch waren, mussten
wir feststellen, dass tatsächlich nahezu alle Bewohner des Ortes und der näheren
Umgebung – von der Kassiererin im Supermarkt bis zu den in einem öffentlichen
Sandkasten spielenden Kindern – auf Deutsch gestellte Fragen in ihrem Hunsrücker
Dialekt beantworten konnten. Und selbst die geräucherte Wurst, die wir zum
Frühstück bekamen, hätte genauso gut eine original Pfälzer Leberwurst sein
können.
Dennoch dürfte das soeben geschilderte Beispiel wohl
eher die Ausnahme sein. Obwohl das Hunsrückisch über lange Zeit der am weitesten
verbreitete deutsche Dialekt in Südbrasilien war, hat sein Gebrauch als
Umgangssprache in den letzten Jahrzehnten drastisch abgenommen. Das liegt vor
allem an der Unterdrückung des Deutschen während des Zweiten Weltkrieges.
Der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit war damals bei Strafe
verboten, was zur Folge hatte, dass die jüngere Generation Portugiesisch als
Erst- und häufig auch einzige Sprache erlernte. Heute wird Hunsrückisch fast nur
noch im privaten Kreis und von der älteren Landbevölkerung in einigen
Sprachinseln aktiv gesprochen, so vor allem im Gebiet von Santa Cruz im
Bundesstaat Rio Grande do Sul.
Die oben geschilderte Situation des Städtchens São
João do Oeste, in dem an die 6000 Menschen nach über 180 Jahren Einwanderung ihr
Hunsrückisch immer noch als Umgangssprache pflegen, ist wie gesagt eher die
Ausnahme. Anders ist es dagegen mit dem Brauchtum der deutschen Einwanderer in
Brasilien bestellt. Das wird – auch wenn die Sprache inzwischen längst verloren
gegangen ist – in seinen unterschiedlichen Ausprägungen immer noch intensiv
gepflegt und erlebt, häufig von den verschiedenen landsmannschaftlichen
Gruppierungen in Deutschland und Österreich gezielt gefördert, in den Bereichen
Volkstanz, Chor-, Volks- und Blasmusik seit einigen Jahren eine wahre
Renaissance. Nur ein Beispiel: Allein im Süden Brasiliens existieren derzeit
über 260 deutsche Tanz- und Trachtengruppen.
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